Worte gegen den Wind ... Die Seite mit kritischer Lyrik und Satire

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Bäumchen wechsel dich

Bayern-Ballade

Bayernhymne neu

Beton vorm Kopf

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Braune Brut

Corona der Schöpfung

Cybersprung

Da werd ich zum Charlie

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Das Wort zum Rosenmontag

Das Wunder von Ampfling

Der Besuch des weißen Vaters

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Deutsche Demokratische Revolution

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Die Maske machts?

Die neuen Kometen

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Ein ganz normaler Abend ...

Eiszeit

Freundliche Mörder

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Glaube und Täuschung

Großer Weißer Adler

Grüße aus dem Hartz

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Klage 12773

Landschaft mit Herzstörungen

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Minilohn (Kennst du das Land)

Missstände muss man bekämpfen

Morgen im März

Nach langem Marsch

Nachruf auf eine Legende

Rede von Slavoj Zizek

Regierende habens nicht leicht

Revolution international

Rotkäppchen reloaded

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Sarairgendjewo

Schengen? - Geschenkt!

Scheuergate - Hundekacke und Kinderwunsch

Schöner Sonntagmorgen

Stell dir vor

Tischgebet

Tschernobyl

Verkehrte (Um)welt

Von Kommas und Kröten

Vorschlag für neuen Eintrag ins deutsche Wörterbuch

Wackersdorf, Pfingsten '88

Wahlkrampf-Rap

Wahltag

Wahlversprechen kosten nichts

Warum führt die Lyrik so ein Schattendasein?

Warum "Worte gegen den Wind"

Was nicht im Lokalteil steht ...

Was wir sind

Wenn der Briefträger dreimal klingelt

Wer ist denn Sarrazin?

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 1)

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 2)

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 3)

Wiedervereinigung nachgeholt

Windstiller Morgen am Ufer der Weichsel

Wortergreifung

Zorniges Poem

Zwei 11. September

Zwei kurze


Siegfried Schüller

In kleinen Schritten zum Holocaust

Vor 75 Jahren, in der sogenannten "Reichskristallnacht" am 9. November¹ 1938, inszenierten die Nationalsozialisten den – vorläufigen – Höhepunkt und Wendepunkt ihrer Judenverfolgung. Angefangen hat sie in kleinen Schritten: mit Diskriminierung, mit Schikanen, die scheinbar harmlos erscheinen, jedenfalls verglichen mit dem, was danach kam – und solange man nicht selbst davon betroffen war. Und nicht jeder war gleich davon betroffen – auf der einen Seite. Und nicht alle haben sich auf der anderen Seite daran beteiligt. Aber jeder hat es mitbekommen.

Auf einmal sind wir Fremde
(Auszüge aus einem fiktiven Tagebuch)

In letzter Zeit bringt Daniel schlechtere Noten nach Hause, obwohl er immer zu den besten Schülern gehörte. Ist das schon die Pubertät? Seine Aufsätze sind aber gut – ich denke, ich kann das beurteilen.


In der Zeitung schreiben sie, Unseresgleichen sei schuld an der Krise und daran, dass wir den Krieg verloren haben. – Unseresgleichen, das heißt, meinesgleichen. In der gleichen Zeitung steht, wir hätten die Presse unterwandert.


Unser Sportverein² war wohl auch unterwandert. Jetzt haben sie Uns alle ausgeschlossen. Für mich ist es nicht so schlimm – da spare ich mir den Beitrag. Aber für Daniel tut es mir leid. Er ist ein begeisterter Fußballer und ganz geknickt.


Sie haben Rosenbaum entlassen. Ich muss seine Deutschstunden übernehmen. Geschichte macht jetzt Karl. Eigentlich gibt er Chemie und Erdkunde, und er mag keine Kinder. Aber er ist halt einer von denen. – Ich darf bleiben. Wegen meinem Verwundetenabzeichen. Hätte nicht gedacht, dass das Stück Blech mal zu etwas nützt. Tragen kann ich es aber nicht. Mir ist dann, als würden die alten Wunden wieder aufreißen.


Einen Bekannten bei der Zeitung haben sie auch entlassen. Die Unterwanderung der hiesigen Presse dürfte damit ein Ende haben.


Vor Kurts Spielwarenladen haben sie demonstriert, haben die Schaufensterscheiben beschmiert und ein Schild aufgehängt, dass die Leute nicht bei Unsereins kaufen sollen. Wie letztes Jahr am 1. April. Damals haben die Leute trotzdem bei ihm gekauft.


Unsereiner darf keinen Wehrdienst mehr leisten. Am nächsten Krieg werden wir bestimmt trotzdem schuld sein.


Mit den neuen Gesetzen wird alles schlimmer. Aber gestern haben wir Hochzeitstag gefeiert, und Martha hat mir gesagt, dass sie wieder schwanger ist.


Heute Morgen standen die Nachbarinnen im Treppenhaus zusammen. Als ich die Treppe herunterkam, sind sie plötzlich verstummt.


Freitag war meine letzte Stunde. Aber nicht, weil jetzt Weihnachtsferien sind. – Sie haben mich auch entlassen. Ein paar haben mir nicht mal die Hand gegeben zum Abschied. Kollegin Gärtner hat mir unter vier Augen gesagt, ihr täte es leid. Sie wünsche mir alles Gute und hoffe, dass bald wieder bessere Zeiten kommen. Das hoffe ich auch.


Gleich nach den Ferien ist Daniel mit einem blauen Auge heimgekommen. Was los war, will er nicht erzählen.


Ich gebe jetzt Nachhilfe. Martha macht Näharbeiten und geht putzen, obwohl sie schon im siebten Monat ist.


In der Hauptstadt veranstalten sie Spiele für die ganze Welt, und unser Sohn klagt, dass die Anderen nicht mehr mit ihm spielen wollen. Er ist schon groß und weiß warum. Aber wie soll ich es der kleinen Clara erklären?
Soll ich sagen: Wir sind schuld, weil wir sind, was wir sind?


War mit Kurt auf dem Friedhof. Haben den Grabstein seiner Eltern wieder aufgestellt und gesäubert, so gut es ging.


Hab jetzt eine Stelle an Unserer Schule. Darf auch nur noch Unsereins unterrichten. Finanziell geht's wieder etwas besser, und Martha geht putzen bei einer anderen Familie.


Sonntag waren wir ein letztes Mal bei Else und Kurt. Nachdem Die ihnen das Weihnachtsgeschäft boykottiert haben, geben sie auf und gehen weg. Den Laden und ihre Wohnung haben sie günstig verkauft, sehr günstig – für die Käufer. Zum Abschied haben sie Clara eine große Babypuppe geschenkt. Daniel bekam ein Flugzeugmodell aus Blech. Mir hat Kurt seinen Wagen überlassen. Mit dem Linksverkehr auf der Insel käme er sowieso nicht zurecht, hat er gesagt.


Als ich Montagmorgen aus dem Haus ging, hab ich mitbekommen, wie die Schneider zur Hoffmann gesagt hat: "Jetzt haben die sogar einen Wagen. So schlecht kann's denen ..." Den Rest hab ich nicht mehr gehört.


Am Wochenende haben wir eine Ausfahrt gemacht und sind gewandert. Bei einer Ortschaft stand am Waldrand auf einer Tafel, dass Unsereins in ihren Wäldern nicht erwünscht ist.


Aus London ist ein Brief gekommen. Sie vermissen uns, aber es gehe ihnen gut, schreibt Else. Und dass Unsere Luise Rainer³ zum zweiten Mal einen Oscar gewonnen hat. Hier erfährt man nichts davon und ihre Filme zeigen sie auch nicht.


Clara kam heute heulend nachhause. Die Hittljungen, wie sie sagt, haben ihr die Puppe weggenommen, sie in den Dreck geworfen und draufgepinkelt. Als sie sie so nicht zurücknehmen wollte, weil sie sich geekelt hat, haben sie die Puppe in den Fluss geworfen.


Das Auto haben wir verkauft – auch sehr "günstig". Wir brauchen das Geld.


Martha war auf dem Amt. Ihr Reisepass ist abgelaufen. Sie haben ihn gleich einbehalten. Am Abend haben wir uns gestritten. "Schade, dass du keine von denen bist", hab ich im Zorn gesagt, "dann könntest du dich ja jetzt ganz schnell scheiden lassen." – Unsere Nerven liegen blank. Ich hoffe, sie verzeiht mir. So weit treiben Die einen, dass man so etwas sagt.


Jetzt ist alles außer Rand und Band. Gestern haben sie unser Gemeindehaus gestürmt, alles zertrümmert und dann angezündet. Wer es wagte zu protestieren, den haben sie verprügelt. Wir haben uns nicht aus dem Haus getraut. Feuerwehrleute und Polizisten sollen auf der Straße gestanden und nur aufgepasst haben, dass die Flammen nicht übergreifen. Selbst die Schaufenster von Kurts Laden haben sie eingeschlagen und ihn geplündert, obwohl es gar nicht mehr seiner ist.
Ich war ewig nicht mehr im Gemeindehaus. Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich gerne noch einmal hingegangen.


Jetzt muss Unsereins auch noch bezahlen für das, was Die angerichtet haben. Wir selbst haben "Glück" und bleiben verschont, weil wir zu wenig Geld haben.


An Marthas Geburtstag haben wir's gewagt und sind ins Kino gegangen. Gott sei Dank hat niemand kontrolliert. Ins Theater, in ein Konzert oder Museum dürfen wir auch nicht mehr. Nicht einmal ins Hallenbad lassen sie uns rein.


Daniel geht jetzt auf Unsere Schule. Das Gymnasium musste er verlassen. Unter Unseresgleichen fühlt er sich jetzt sicherer und hat auch wieder bessere Noten.


Ich bin froh, dass ich Kurts Wagen schon verkauft hab. Jetzt dürfte ich nicht einmal mehr damit fahren.


Wir müssen jetzt überall diese neuen Kennkarten dabeihaben. Silvester haben wir auf unsere neuen Namen angestoßen. Daniel und ich heißen jetzt Israel mit zweitem Vornamen. Clara und Martha heißen Sara. Bei Namen, an denen man Unsereins gleich erkennen kann, wäre es nicht nötig gewesen. Die haben da eine Liste. Aber wer nennt seinen Sohn Absalom, Itzig oder Schmul? Oder will eine Tochter haben, die Driesel, Feigle oder Geilchen heißt?


Unser Metzger wurde gezwungen seinen Laden zu schließen. Für die paar Unsereins, die noch bei ihm gekauft haben, sagt er, hätte sich das Schlachten sowieso nicht mehr rentiert.


Einige Nachbarn grüßen nicht mehr, werfen uns nur misstrauische Blicke zu und tuscheln hinter unserem Rücken. Wenigstens lässt uns der Vermieter noch hier wohnen.


Als ich heute heimkam, hat es schon im Treppenhaus nach Sauerbraten gerochen. Bei uns gab's aber keinen, obwohl Martha beim neuen Metzger extra ein Stück bestellt hatte.


Heute sind sie im Osten einmarschiert. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was Unseresgleichen dort erdulden muss.


Ab 20 Uhr dürfen wir jetzt nicht mehr aus dem Haus. Aber wo sollten wir auch hin, wenn wir nicht wie der Hund vorm Metzgerladen stehen wollen?


Nicht mal den Rundfunk lassen sie uns. Unseren Empfänger haben sie beschlagnahmt. Ich konnte ihre dauernden Erfolgsmeldungen sowieso nicht mehr hören.


Wir wohnen jetzt in einem Haus mit lauter Unsereins. Wir machen uns Vorwürfe, warum wir nicht gegangen sind, solange es noch ging. Vielleicht wäre es sogar noch möglich, wenn wir Geld hätten.


Letzte Woche hat Martha das Zeichen auf unsere Mäntel genäht. Unser Zeichen. Seitdem drehen sich Leute nach uns um, die uns gar nicht kennen. Andere, die wir kennen, schauen dafür weg, wenn sie uns begegnen. Auf einmal sind wir Fremde, wie Eindringlinge im eigenen Land. Heute hat einer Martha vor die Füße gespuckt, und eine Frau hat "Pfui!" gesagt - aber zu dem, der gespuckt hat.


Wozu der gelbe Stern? Wo sie sogar in der Schule lernen, wie sie Unsereins schon an der Nase erkennen. - Da haben wir's: Mit dem Stern auf der Brust erkennen sie Uns auf den ersten Blick, ohne dass sie einem ins Gesicht schauen müssen.


Clara ist erst fünf und muss noch keinen tragen. Sie will aber unbedingt auch so einen Stern. Wir haben ihr einen aus Pappe gemacht, zum Anstecken. Aber nur für daheim.


Jetzt dürfen wir nicht mal mehr Haustiere halten. Was denken die sich noch alles aus? Hoffentlich zwitschern unsere Kanarienvögel nicht zu laut.


Gestern war's kalt und beim Abendessen sind wir in unseren Mänteln gesessen. Mit den Zeichen. "Wenigstens sieht man, dass wir alle zusammengehören", hat Martha gesagt. Wir haben gelacht. Trotz alledem.


Heute war ein warmer, sonniger Tag. Wir haben die Vögel freigelassen, bevor uns noch einer verpfeift. Haben lange die Käfigtür offengelassen, bis sie endlich davongeflattert sind.


Gestern gab's den ersten Fliegeralarm. Der Hartwig vom Nebenhaus wollte uns nicht in den Luftschutzkeller lassen. Ein paar Leute waren empört, da hat er nachgegeben. Dann saßen wir da, mit den Anderen. Für eine Nacht hatten alle die gleiche Angst. Und der Feind saß da oben in seinen Bombern.


Die Munitionsfabrik, in der ich seit einem Jahr arbeiten muss, hat einen Treffer abgekriegt. Was, wenn sie mich jetzt nicht mehr brauchen? Sie zahlen Hungerlohn, aber mit den Lebensmittelmarken hat es zum Überleben gereicht, auch wenn wir weniger bekommen als die Anderen.


Heute haben wir Bescheid bekommen, dass wir "evakuiert" werden. Sie haben auch geschrieben, was wir mitbringen sollen zur "Ansiedlung im Osten". Und ich muss einen langen Fragebogen ausfüllen und alles eintragen, was wir noch besitzen, auch Möbel und Kleidung. Unsere Wertsachen haben wir ja längst verkauft. Nur die Kette von ihrer Mutter hat Martha behalten und versteckt. Die Eheringe und 50 Mark pro Person dürfen wir mitnehmen. Sonst nur das Nötigste, was wir am Leib haben und was in einen kleinen Koffer passt. Montag um Acht sollen wir uns einfinden - ausgerechnet in der Turnhalle Unserer Schule, die sie geschlossen haben.
Freiwillig geh ich nicht hin.


Ich hab das Verwundetenabzeichen aus der Schublade geholt und es neben den Stern auf meinen Mantel geheftet. Das wird nicht mehr helfen und ist verboten, aber das ist jetzt auch egal. Diesmal fühlt es sich richtig an.


Ich höre Schritte im Treppenhaus. Es klingelt. Jemand schlägt mit der Faust gegen die Tür.
Ich muss aufhören.


¹ Der  9. November gilt als Schicksalstag der Deutschen. Selten jedoch gab es an diesem Tag – wie am  9. November 1989, dem Tag des Berliner Mauerfalls – wirklich etwas zu feiern.
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² In meiner Vaterstadt, der damaligen Stadt der Reichsparteitage und Wirkungsstätte des NS-Propagandisten, selbsternannten Frankenführers und Judenhassers Julius Streicher und seines Hetzblatts Der Stürmer, war man besonders eifrig bei der Judenverfolgung. Und der – damals allenfalls im Sport ruhmreiche – 1. FC Nürnberg war einer der ersten Sportvereine, der seine jüdischen Mitglieder ausschloss. 2013, nach 80 Jahren, hat der Club sie rehabilitiert. Das ehrt den Verein, auch wenn er damit vor allem sich selbst rehabilitiert hat.
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³ Luise Rainer (* 12. Januar 1910 in Düsseldorf) ist die einzige deutsche Schauspielerin, die jemals einen Oscar als Beste Hauptdarstellerin gewann – und das als erste Person gleich zwei Jahre hintereinander (1937 und 1938). Dennoch ist die mittlerweile 103-Jährige, die wegen der Nazis in die USA gegangen war und heute in London lebt, hierzulande kaum jemandem bekannt.
Ausführliche Biografien (auf englisch) von Luise Rainer gibt es bei answers.com und bei der Internet-Filmdatenbank IMDb – dort am Ende mit originellen Zitaten Luise Rainers wie "Das Geheimnis eines langen Lebens ist, niemals einem Arzt zu trauen."
Bei merkur-online.de gibt es ein amüsantes Porträt zum 100. Geburtstag der Schauspielerin und in einer Aufzählung des Handelsblatts (angeblich aller Oscar-Gewinner aus Deutschland seit 1929) wird sie nicht einmal erwähnt. –  Shame on you, Handelsblatt!
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Hier eine kleine Auswahl von Links, bei denen Sie mehr erfahren können zur Judenverfolgung während der Nazizeit:

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