Siegfried Schüller
In kleinen
Schritten zum Holocaust
Vor 75 Jahren, in
der sogenannten "Reichskristallnacht" am 9. November¹ 1938,
inszenierten die Nationalsozialisten den – vorläufigen – Höhepunkt und
Wendepunkt ihrer
Judenverfolgung. Angefangen hat sie in kleinen Schritten: mit Diskriminierung,
mit Schikanen, die scheinbar harmlos erscheinen, jedenfalls verglichen mit dem, was danach kam – und solange man nicht selbst davon
betroffen war. Und nicht jeder war gleich davon betroffen – auf der einen Seite.
Und nicht alle haben sich auf der anderen Seite daran beteiligt. Aber jeder hat es mitbekommen.
Auf einmal sind wir
Fremde
(Auszüge aus einem fiktiven Tagebuch)
In letzter Zeit bringt Daniel
schlechtere Noten nach Hause, obwohl er immer zu den besten Schülern
gehörte. Ist das schon die Pubertät? Seine Aufsätze sind aber gut – ich
denke, ich kann das beurteilen.
In der Zeitung schreiben sie,
Unseresgleichen sei schuld an der Krise und daran, dass wir den Krieg verloren
haben. – Unseresgleichen, das heißt, meinesgleichen. In der gleichen
Zeitung steht, wir hätten die Presse unterwandert.
Unser Sportverein² war wohl
auch unterwandert. Jetzt haben sie Uns alle ausgeschlossen. Für mich
ist es nicht so schlimm – da spare ich mir den Beitrag. Aber
für Daniel tut es mir leid. Er ist ein
begeisterter Fußballer und ganz geknickt.
Sie haben Rosenbaum
entlassen. Ich muss seine Deutschstunden übernehmen. Geschichte macht jetzt
Karl. Eigentlich gibt er Chemie und Erdkunde, und er mag keine Kinder. Aber er
ist halt einer von denen. – Ich darf bleiben. Wegen meinem
Verwundetenabzeichen. Hätte nicht gedacht, dass das Stück Blech mal zu etwas
nützt. Tragen kann ich es aber nicht. Mir ist dann, als würden die alten
Wunden wieder aufreißen.
Einen Bekannten bei der
Zeitung haben sie auch entlassen. Die Unterwanderung der hiesigen Presse dürfte damit
ein Ende haben.
Vor Kurts Spielwarenladen
haben sie demonstriert, haben die Schaufensterscheiben beschmiert und ein
Schild aufgehängt, dass die Leute nicht bei Unsereins kaufen sollen. Wie
letztes Jahr am 1. April. Damals haben die Leute trotzdem bei ihm gekauft.
Unsereiner darf keinen
Wehrdienst mehr leisten. Am nächsten Krieg werden wir bestimmt trotzdem
schuld sein.
Mit den neuen Gesetzen wird
alles schlimmer. Aber gestern haben wir Hochzeitstag gefeiert, und Martha hat
mir gesagt, dass sie wieder schwanger ist.
Heute Morgen standen die
Nachbarinnen im Treppenhaus zusammen. Als ich die Treppe herunterkam, sind sie
plötzlich verstummt.
Freitag war meine letzte
Stunde. Aber nicht, weil jetzt Weihnachtsferien sind. – Sie haben mich auch entlassen.
Ein paar haben mir nicht mal die Hand gegeben zum Abschied. Kollegin Gärtner
hat mir unter vier Augen gesagt, ihr täte es leid. Sie wünsche mir alles
Gute und hoffe, dass bald wieder bessere Zeiten kommen. Das hoffe ich auch.
Gleich nach den Ferien ist
Daniel mit einem blauen Auge heimgekommen. Was los war, will er nicht
erzählen.
Ich gebe jetzt Nachhilfe.
Martha macht Näharbeiten und geht putzen, obwohl sie schon im siebten Monat
ist.
In der Hauptstadt
veranstalten sie Spiele für die ganze Welt, und unser Sohn klagt, dass die
Anderen nicht mehr mit ihm spielen wollen. Er ist schon groß und weiß warum.
Aber wie soll ich es der kleinen Clara erklären?
Soll ich sagen: Wir sind
schuld, weil wir sind, was wir sind?
War mit Kurt auf dem
Friedhof. Haben den Grabstein seiner Eltern wieder aufgestellt und gesäubert,
so gut es ging.
Hab jetzt eine Stelle an
Unserer Schule. Darf auch nur noch Unsereins unterrichten. Finanziell geht's
wieder etwas besser, und Martha geht putzen bei einer anderen Familie.
Sonntag waren wir ein letztes
Mal bei Else und Kurt. Nachdem Die ihnen das Weihnachtsgeschäft boykottiert
haben, geben sie auf und gehen weg. Den Laden und ihre Wohnung haben sie
günstig verkauft, sehr günstig – für die Käufer. Zum Abschied haben sie
Clara eine große Babypuppe geschenkt. Daniel bekam ein Flugzeugmodell aus
Blech. Mir hat Kurt seinen Wagen überlassen. Mit dem Linksverkehr auf der
Insel käme er sowieso nicht zurecht, hat er gesagt.
Als ich Montagmorgen aus dem
Haus ging, hab ich mitbekommen, wie die Schneider zur Hoffmann gesagt hat:
"Jetzt haben die sogar einen Wagen. So schlecht kann's denen ..."
Den Rest hab ich nicht mehr gehört.
Am Wochenende haben wir eine
Ausfahrt gemacht und sind gewandert. Bei einer Ortschaft stand am Waldrand auf
einer Tafel, dass Unsereins in ihren Wäldern nicht erwünscht ist.
Aus London ist ein Brief
gekommen. Sie vermissen uns, aber es gehe ihnen gut, schreibt Else. Und dass
Unsere Luise Rainer³ zum zweiten Mal einen Oscar gewonnen hat. Hier erfährt
man nichts davon und ihre Filme zeigen sie auch nicht.
Clara kam heute heulend
nachhause. Die Hittljungen, wie sie sagt, haben ihr die Puppe weggenommen, sie
in den Dreck geworfen und draufgepinkelt. Als sie sie so nicht zurücknehmen
wollte, weil sie sich geekelt hat, haben sie die Puppe in den Fluss geworfen.
Das Auto haben wir verkauft
– auch sehr "günstig". Wir brauchen das Geld.
Martha war auf dem Amt. Ihr
Reisepass ist abgelaufen. Sie haben ihn gleich einbehalten. Am Abend haben wir
uns gestritten. "Schade, dass du keine von denen bist", hab ich im Zorn
gesagt, "dann könntest du dich ja jetzt ganz schnell scheiden lassen."
– Unsere Nerven liegen blank. Ich hoffe, sie verzeiht mir. So weit treiben
Die einen, dass man so etwas sagt.
Jetzt ist alles außer Rand
und Band. Gestern haben sie unser Gemeindehaus gestürmt, alles zertrümmert
und dann angezündet. Wer es wagte zu protestieren, den haben sie verprügelt.
Wir haben uns nicht aus dem Haus getraut. Feuerwehrleute und Polizisten sollen
auf der Straße gestanden und nur aufgepasst haben, dass die Flammen nicht
übergreifen. Selbst die Schaufenster von Kurts Laden haben sie eingeschlagen
und ihn geplündert,
obwohl es gar nicht mehr seiner ist.
Ich war ewig nicht mehr im Gemeindehaus. Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich
gerne noch einmal hingegangen.
Jetzt muss Unsereins auch
noch bezahlen für das, was Die angerichtet haben. Wir selbst haben
"Glück" und bleiben verschont, weil wir zu wenig Geld haben.
An Marthas Geburtstag haben
wir's gewagt und sind ins Kino gegangen. Gott sei Dank hat niemand
kontrolliert. Ins Theater, in ein Konzert oder Museum dürfen wir auch nicht
mehr. Nicht einmal ins Hallenbad lassen sie uns rein.
Daniel geht jetzt auf Unsere
Schule. Das Gymnasium musste er verlassen. Unter Unseresgleichen fühlt er
sich jetzt sicherer und hat auch wieder bessere Noten.
Ich bin froh, dass ich Kurts
Wagen schon verkauft hab. Jetzt dürfte ich nicht einmal mehr damit fahren.
Wir müssen jetzt überall
diese neuen Kennkarten dabeihaben. Silvester haben wir auf unsere neuen Namen angestoßen.
Daniel und ich heißen jetzt Israel mit zweitem Vornamen. Clara und Martha
heißen Sara. Bei Namen, an denen man Unsereins gleich erkennen kann, wäre es
nicht nötig gewesen. Die haben da eine Liste. Aber wer nennt seinen Sohn
Absalom, Itzig oder Schmul? Oder will eine Tochter haben, die Driesel, Feigle
oder Geilchen heißt?
Unser Metzger wurde gezwungen
seinen Laden zu schließen. Für die paar Unsereins, die noch bei ihm gekauft
haben, sagt er, hätte sich das Schlachten sowieso nicht mehr rentiert.
Einige Nachbarn grüßen
nicht mehr, werfen uns nur misstrauische Blicke zu und tuscheln hinter unserem
Rücken. Wenigstens lässt uns der Vermieter noch hier wohnen.
Als ich heute heimkam, hat es
schon im Treppenhaus nach Sauerbraten gerochen. Bei uns gab's aber keinen,
obwohl Martha beim neuen Metzger extra ein Stück bestellt hatte.
Heute sind sie im Osten
einmarschiert. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was Unseresgleichen dort
erdulden muss.
Ab 20 Uhr dürfen wir jetzt
nicht mehr aus dem Haus. Aber wo sollten wir auch hin, wenn wir nicht wie der Hund
vorm Metzgerladen stehen wollen?
Nicht mal den Rundfunk lassen
sie uns. Unseren Empfänger haben sie beschlagnahmt. Ich konnte ihre
dauernden Erfolgsmeldungen sowieso nicht mehr hören.
Wir wohnen jetzt in einem
Haus mit lauter Unsereins. Wir machen uns Vorwürfe, warum wir nicht gegangen
sind, solange es noch ging. Vielleicht wäre es sogar noch möglich, wenn wir
Geld hätten.
Letzte Woche hat Martha das
Zeichen auf unsere Mäntel genäht. Unser Zeichen. Seitdem drehen sich Leute
nach uns um, die uns gar nicht kennen. Andere, die wir kennen, schauen dafür weg,
wenn sie uns begegnen. Auf einmal sind wir Fremde, wie Eindringlinge im
eigenen Land. Heute hat einer Martha vor die Füße gespuckt, und eine Frau
hat "Pfui!" gesagt - aber zu dem, der gespuckt hat.
Wozu der gelbe Stern? Wo sie
sogar in der Schule lernen, wie sie Unsereins schon an der Nase erkennen. - Da
haben wir's: Mit dem Stern auf der Brust erkennen sie Uns auf den ersten
Blick, ohne dass sie einem ins Gesicht schauen müssen.
Clara ist erst fünf und muss
noch keinen tragen. Sie will aber unbedingt auch so einen Stern. Wir haben ihr
einen aus Pappe gemacht, zum Anstecken. Aber nur für daheim.
Jetzt dürfen wir nicht mal
mehr Haustiere halten. Was denken die sich noch alles aus? Hoffentlich
zwitschern unsere Kanarienvögel nicht zu laut.
Gestern war's kalt und beim
Abendessen sind wir in unseren Mänteln gesessen. Mit den Zeichen.
"Wenigstens sieht man, dass wir alle zusammengehören", hat Martha
gesagt. Wir haben gelacht. Trotz alledem.
Heute war ein warmer,
sonniger Tag. Wir haben die Vögel freigelassen, bevor uns noch einer
verpfeift. Haben lange die Käfigtür offengelassen, bis sie endlich
davongeflattert sind.
Gestern gab's den ersten
Fliegeralarm. Der Hartwig vom Nebenhaus wollte uns nicht in den
Luftschutzkeller lassen. Ein paar Leute waren empört, da hat er nachgegeben.
Dann saßen wir da, mit den Anderen. Für eine Nacht hatten alle die gleiche
Angst. Und der Feind saß da oben in seinen Bombern.
Die Munitionsfabrik, in der
ich seit einem Jahr arbeiten muss, hat einen Treffer abgekriegt. Was, wenn sie
mich jetzt nicht mehr brauchen? Sie zahlen Hungerlohn, aber mit den
Lebensmittelmarken hat es zum Überleben gereicht, auch wenn wir weniger
bekommen als die Anderen.
Heute haben wir Bescheid
bekommen, dass wir "evakuiert" werden. Sie haben auch geschrieben,
was wir mitbringen sollen zur "Ansiedlung im Osten". Und ich muss
einen langen Fragebogen ausfüllen und alles eintragen, was wir noch besitzen,
auch Möbel und Kleidung. Unsere Wertsachen haben wir ja längst verkauft. Nur
die Kette von ihrer Mutter hat Martha behalten und versteckt. Die Eheringe und
50 Mark pro Person dürfen wir mitnehmen. Sonst nur das Nötigste, was wir am
Leib haben und was in einen kleinen Koffer passt. Montag um Acht sollen wir
uns einfinden - ausgerechnet in der Turnhalle Unserer Schule, die sie
geschlossen haben.
Freiwillig geh ich nicht hin.
Ich hab das
Verwundetenabzeichen aus der Schublade geholt und es neben den Stern auf
meinen Mantel geheftet. Das wird nicht mehr helfen und ist verboten, aber das
ist jetzt auch egal. Diesmal fühlt es sich richtig an.
Ich höre Schritte im
Treppenhaus. Es klingelt. Jemand schlägt mit der Faust gegen die Tür.
Ich muss aufhören.
¹ Der 9. November gilt als
Schicksalstag der Deutschen. Selten jedoch gab es an diesem Tag – wie
am 9. November 1989, dem Tag des Berliner Mauerfalls – wirklich etwas zu feiern.
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² In meiner Vaterstadt, der
damaligen Stadt der Reichsparteitage und Wirkungsstätte des NS-Propagandisten,
selbsternannten Frankenführers und Judenhassers Julius Streicher und seines Hetzblatts
Der
Stürmer, war man besonders eifrig bei der Judenverfolgung. Und der –
damals allenfalls im Sport ruhmreiche – 1. FC Nürnberg war einer der ersten
Sportvereine, der seine jüdischen Mitglieder ausschloss. 2013, nach 80
Jahren, hat der Club sie rehabilitiert. Das ehrt den Verein, auch wenn er damit vor allem sich
selbst rehabilitiert hat.
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³ Luise
Rainer (* 12. Januar 1910 in Düsseldorf) ist die einzige deutsche
Schauspielerin, die jemals einen
Oscar als Beste Hauptdarstellerin gewann – und das als erste
Person gleich zwei Jahre hintereinander (1937 und 1938). Dennoch ist
die mittlerweile 103-Jährige, die wegen der Nazis in die USA gegangen war
und heute in London lebt, hierzulande kaum jemandem bekannt.
Ausführliche Biografien (auf englisch) von Luise Rainer gibt es bei answers.com
und bei der Internet-Filmdatenbank IMDb
– dort am Ende mit originellen Zitaten Luise
Rainers wie "Das Geheimnis eines langen Lebens ist, niemals einem Arzt zu
trauen."
Bei merkur-online.de gibt es ein amüsantes Porträt
zum 100. Geburtstag der Schauspielerin und in einer
Aufzählung
des Handelsblatts (angeblich aller Oscar-Gewinner aus Deutschland seit 1929) wird sie nicht einmal
erwähnt. – Shame on you, Handelsblatt!
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Hier eine kleine Auswahl von Links,
bei denen Sie mehr erfahren können zur Judenverfolgung während der
Nazizeit: