Worte gegen den Wind ... Die Seite mit kritischer Lyrik und Satire

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Der wahre Glaube ...

Deutsche Demokratische Revolution

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Ein ganz normaler Abend ...

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Grüße aus dem Hartz

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Morgen im März

Nach langem Marsch

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Regierende habens nicht leicht

Revolution international

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Sarairgendjewo

Schengen? - Geschenkt!

Scheuergate - Hundekacke und Kinderwunsch

Schöner Sonntagmorgen

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Tischgebet

Tschernobyl

Verkehrte (Um)welt

Von Kommas und Kröten

Vorschlag für neuen Eintrag ins deutsche Wörterbuch

Wackersdorf, Pfingsten '88

Wahlkrampf-Rap

Wahltag

Wahlversprechen kosten nichts

Warum führt die Lyrik so ein Schattendasein?

Warum "Worte gegen den Wind"

Was nicht im Lokalteil steht ...

Was wir sind

Wenn der Briefträger dreimal klingelt

Wer ist denn Sarrazin?

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 1)

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 2)

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 3)

Wiedervereinigung nachgeholt

Windstiller Morgen am Ufer der Weichsel

Wortergreifung

Zorniges Poem

Zwei 11. September

Zwei kurze


Siegfried Schüller

Die große Wahl

Es geht hier nicht um die jetzige Wahl 2013! Der folgende Text beschreibt die Qual der Wahl, die ich als junger Drittwähler am 6. März 1983 gefühlt habe. (Es war die dritte Bundestagswahl, an der ich teilnehmen durfte.) Bei dieser Wahl zogen erstmals die Grünen in den - damals noch in Bonn sitzenden - Bundestag ein, und die bis dahin noch ungewählte schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl wurde vom Wähler bestätigt. Das ist 30 Jahre her, fühlt sich aber immer noch irgendwie aktuell an.)

 

Heute ist Wahlsonntag - der bedeutende Tag der alles entscheidenden Bundestagswahl nach der Wende¹ von 1982.

Am Daumen kitzeln können die mich alle mal. Gewählt habe ich trotzdem: nicht das kleinere Übel, sondern die Grünen, kompromisslos mit beiden Stimmen.

Es soll Leute geben, die über die Bedeutung der Zweitstimme nicht Bescheid wissen. Sie gehen trotzdem wählen. Sie können lesen, schreiben und Kreuzchen machen: beim Gottesdienst in der katholischen Kirche und danach im Wahllokal gleich nebenan, wo sie alle brav ihre staatsbürgerliche Pflicht erfüllen und sogar zwei Kreuzchen machen dürfen.

Den ganzen Tag über strömt das Wahlvolk wie die Ameisen über den asphaltierten Schulhof. Die meisten kommen zu Fuß und pärchenweise oder mit der gerade erwachsenen Tochter am Arm, die heute zum ersten Mal wählen darf. Viele fahren auch mit dem Wagen vor, weil sie zu faul zum Laufen sind oder zu vollgefressen. Sie kommen im Sonntagsstaat mit Mann, Frau, Hund und Kind und Kegel. Ganz Deutschland ist heute auf den Beinen, um sein Schicksal für die nächsten vier Jahre zu bestimmen.

 

Am Abend wartet dann alles gespannt auf den Wahlausgang, den die Demoskopen längst prophezeit haben. - Die Wahl als eine einmalige Chance für das Volk, den Vorhersagen möglichst nahe zu kommen.

Auch ich bin gespannt auf das Wahlergebnis - schließlich hab ich ja auch meine Stimme abgegeben (und abgegeben ist genau das richtige Wort!).

Das Gefühl vor dem Fernsehschirm ist so ähnlich wie bei der Ziehung der Lottozahlen. Nur mit dem Unterschied, dass ich bei der Wahl nichts gewinnen kann. Was wird sich denn ändern durch das Wahlergebnis? - Wahrscheinlich nichts, auf jeden Fall nichts Wesentliches. Es ist ein Ereignis wie ein Geburtstag - von statistischer Bedeutung, von geschichtlicher vielleicht, aber von keiner besonderen Bedeutung für mich und mein Leben.

Nach der Wahl stehen die in Bonn doch genauso deppert und hilflos da wie vorher - mit dem einzigen Unterschied, dass sie dann eine Art Alibi haben, eine allgemeine Ausrede: "Wir sind nicht schuld, dass alles so gekommen ist", können sie sagen, wenn die ersten Schwierigkeiten wieder auftauchen aus dem Sumpf der Wahlpropaganda. "Ihr wart es doch schließlich, die ihr uns gewählt habt!" oder: "Selber schuld, hättet ihr eure Stimmen unserer Partei gegeben, wäre euch das erspart geblieben!" - Klar, die Herren Politiker² werden sich anders ausdrücken, gewählter im wahrsten Sinn des Wortes, aber die Essenz ihrer Aussagen wird die gleiche sein. Darauf können Sie Gift nehmen oder Genscher glauben und die Zweitstimme der FDP geben; Kohl ankreuzen, Franz-Josef Strauß wählen oder den anderen Vogel³.

Es hilft nichts, ich glaube nicht mehr an diesen Wahlfurz. Er stinkt mir, weil die Ohnmacht, wirklich etwas ändern zu können, so himmelschreiend offenbar wird.

 

Die Wahlvorsteherin, die hinter einer Schulbank im Wahllokal thront, hat mir den Umschlag mit meiner Stimme abgenommen, macht auf einer Liste einen Haken hinter meinen Namen, dann will sie den Umschlag in die Urne werfen. Ich erwische ihn gerade noch rechtzeitig, und es gelingt mir, der verdutzten Frau das Papier zu entreißen.

Mit der feierlichen Erklärung, dass ich das wenigstens selbst machen wolle, führe ich meine Stimme eigenhändig in den dafür vorgesehenen Schlitz ein und verlasse als freier und stolzer Bundesbürger mein Wahllokal.


¹ Gemeint ist die Machtübernahme Helmut Kohls durch das erfolgreiche Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982, als die FDP aus der sozialliberalen in eine schwarz-gelbe Koalition überlief. Diese Konstellation wurde vom Wähler bei der vorgezogenen  Bundestagswahl am 6. März 1983 bestätigt. Hier können sie dazu einen alten Artikel des SPIEGEL lesen.
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² Bis 1983 lag der Frauenanteil im Deutschen Bundestag unter zehn Prozent. Seitdem ist er stetig gestiegen und hat 2009 mit 32,8 Prozent seinen bisherigen Höchstwert erreicht. In der Fraktion der Grünen lag er allerdings schon 1983 bei 35,7 Prozent (2009: 52,9 Prozent - nur noch übertroffen von der Linken-Fraktion mit 55,3 Prozent). Näheres dazu gibt es hier.
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³ Mit dem anderen Vogel ist der damalige SPD-Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel gemeint - ehemals Münchner OB, Bundesjustizminister und  Regierender Bürgermeister von Berlin.

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