Warum führt die Lyrik so ein Schattendasein? *
(Versuch einer Antwort und Plädoyer für eine lebendige und engagierte Lyrik)
Ich bin kein Literaturwissenschaftler oder
Poetologe, aber als Leser und Schreiber von Gedichten frage ich mich doch, warum
gerade die Gattung der Lyrik in unserer Gegenwartsliteratur so ein
Schattendasein führt – weitgehend unbeachtet von den Medien und der großen
Masse der Kunst- und Literaturkonsumenten. Es werden zwar nach wie vor Unmengen
von Gedichten (oder was sich als solches ausgibt) geschrieben und auch
veröffentlicht – lesen will das aber, außer den Produzenten selbst,
anscheinend kaum jemand.
Angesichts der Dauerberieselung durch die
modernen Massenmedien mit ihren vorgekauten Gedanken und ihrer geistigen Schon-
und Tiefkühlkost, mag es sein, dass das Publikum nicht mehr daran gewöhnt und
überfordert ist, sich länger als nur einen Augenblick (im wahrsten Sinne des
Wortes) auf etwas einzulassen, vielleicht genauer hinzuschauen, nachzulesen und
selbst nachzudenken über das, was ein Anderer gedacht, erlebt und als Gedicht
aufgezeichnet hat.
Sicher ist das mit ein Grund für das
Desinteresse an der Lyrik. Vielleicht sind das Kabelfernsehen und der
Computer-Virus schuld daran oder ganz einfach die Entdeckung des elektrischen
Stroms und die Tatsache, dass abends keiner mehr bei Kerzenlicht liest? –
Betrachtungen darüber würden vielleicht erklären, ändern würde sich dadurch
nichts. Ich glaube aber, es liegt in erster Linie an den Lyrikern und
Lyrikerinnen selbst (und wenn es nicht so wäre, dann hätte dieser Essay auch
wenig Sinn und taugte allenfalls als Grabrede oder vorgezogener Nachruf auf die
Lyrik).
Die Sprache der (publizierten) Lyrik ist immer
unverständlicher geworden. Was sie vielleicht sagen will, versteckt sich hinter
Bildern und Metaphern, die oft keine Resonanz mehr finden in der Phantasie ihrer
Leser und Zuhörer. Ja, ich glaube, viele Lyriker wissen manchmal selbst nicht,
was sie da eigentlich in ihren kryptischen Gedankengängen und Wortgebilden
verborgen haben und schon gar nicht, warum sie das, was sie eventuell
ausdrücken wollten, so verschlüsselt haben, dass es kein Nichteingeweihter
mehr erkennen kann oder gar in der Lage ist, eigene Gefühle und Gedanken zu
entdecken in einem Gedicht.
Das Publikum des Lyrikers erscheint so quasi
als schwarzes Loch: Es schluckt zwar alles, was es geboten bekommt, bleibt dabei
aber stumm und verschlossen im Dunkeln und zieht sich immer mehr in sich selbst
zurück, bis schließlich nur noch ein kleiner, esoterischer Kreis übrigbleibt,
von dem keinerlei Leuchtkraft mehr ausgeht.
Die Lyrik aber, und damit auch jedes einzelne Gedicht, sollte ein Schlüssel
sein zum Bewusstsein und zum Unbewussten, nicht nur des Verfassers, sondern auch
des Empfängers. Was oder wen denn sonst sollte ein Gedicht erreichen, wenn es
nicht nur leeres Wortgeklingel und seelische Selbstbefriedigung sein will? – Ein
Schlüssel aber, der nicht passt, wird sich vergeblich drehen und winden – die
Tür zum Nächsten wird verschlossen bleiben.
Ein Gedicht sollte eindringen, sollte, was verschüttet war, nach oben kehren,
das Unerhörte zum Schwingen, das Verschwiegene zur Sprache bringen. Es sollte
zumindest irgendeine Erregung verursachen.
Was gibt es Öderes, als Leute bei Lesungen mit
Lyrik zu langweilen? – Menschen, die scheinbar andächtig lauschen, in
Wirklichkeit aber nur zum Gähnen zu höflich und zum Einschlafen nicht müde
genug sind. Und gibt es da etwas Schöneres, als eine solche Versammlung mit ein
paar einfachen und unerwarteten Versen aus ihrer Lethargie zu reißen?
Die Lyrik aber zieht sich zurück in ihren
kunstvoll konstruierten Elfenbeinturm; der Dichter hält seinen
Dornröschenschlaf und kümmert sich nicht um das, was draußen vor sich geht,
wundert sich nur und beklagt sich ab und zu, warum denn niemand kommt und ihn
wach küsst und wieder ins allgemeine Bewusstsein ruft.
Ich weiß nicht, wann genau und warum die
Dichter in diesen Dornröschenschlaf fielen; vielleicht erklärt sich ja ihr
Hang zum Zurückgezogenen und Verschlüsselten – zumindest hierzulande – aus dem
nachwirkenden Klima von Einschüchterung und Angst, welches die wechselnden
deutschen Diktaturen erzeugt haben (oder auch: ... erzeugt hat).
Unbequeme Wahrheiten nicht wahrhaben wollen,
unerwünschte Gedanken lieber für sich behalten oder sie (wie im subtileren
System der früheren DDR) zumindest so zu verkleiden, dass einem durch die
Vieldeutigkeit des Geschriebenen keine eindeutigen Nachteile entstehen können – ein solches Verhalten erscheint verständlich, wo es notwendig war zum
Überleben oder um wenigstens einigermaßen angenehm und unbehelligt existieren
zu können.
Was mich aber wundert, ist die Tatsache, dass
solche Verhaltensweisen, wie sie einer mehr oder weniger repressiven
Gesellschaft angemessen sein mögen, allem Anschein nach in unsere heutige,
demokratische Gesellschaft fast nahtlos übernommen wurden – davon ausgenommen
vielleicht die 68er-Bewegung und die gesungenen Gedichte ("Lyrik" im
ursprünglichen Sinn) verschiedener Liedermacher sowie einige, meist wenig
publizierte, zeitgenössische Autoren.
Gibt es plausible Gründe dafür? Sollte unsere
Gesellschaft etwa doch nicht so demokratisch und tolerant sein, wie sie es
vorgibt? Wovor sollten wir uns fürchten? – Ist es die Diktatur des Wachstums um
jeden Preis mit ihrem alltäglichen Konsumterror und Rentabilitätsdenken, die
die harmlose und scheinbar überflüssige Kunst des Dichtens zum Schweigen und
Stillhalten zwingt? Sind Gedichte heute so unzeitgemäß und nutzlos wie eine
schwarze Schallplatte für jemand, der einen CD-Player besitzt? – Ich lasse
diese Fragen unbeantwortet stehen, als Anregung zu eigenem Nachdenken – eine
Absicht, die ja auch ein Gedicht verfolgen kann.
Unsere "klassischen" Dichter haben
oft auf Motive aus der Antike und andere historische Stoffe zurückgegriffen, um
ihre Ideen und Ideale auszudrücken, unbequeme Gedanken loszuwerden und
gesellschaftliche Verhältnisse durch Vergleich bewusst zu machen. Heute ist das
vielleicht schwer zu erkennen und nachzuvollziehen, aber ich denke, zu ihrer
Zeit wurden sie verstanden – sicher nicht in allen Bevölkerungsschichten, wohl
aber von denen, die ihre Werke lesen und hören konnten.
Um bei den Klassikern zu bleiben:
Warum glauben die meisten modernen Lyriker, auf die stärksten Ausdrucksmittel
der dichterischen Sprache wie Reim, Rhythmus, Sprachmelodie und Versmaß
unbedingt verzichten zu müssen? – Um nicht dilettantisch, antiquiert oder gar
reaktionär zu wirken? Dilettantisch ist aber nur, wer seine Kunst nicht
beherrscht und altmodisch nur, wer es nicht versteht, traditionelle Formen mit
aktuellen Inhalten und zeitgemäßer Sprache zu füllen. Es kommt aber weniger
auf die äußere Form an oder darauf, so oder so nicht wirken zu wollen –
vielmehr kommt es darauf an, überhaupt zu wirken.
Nach meiner Überzeugung gehört es zur
sozialen Aufgabe und Verantwortung des Dichters, Kritik zu üben, Missstände
deutlich zu machen, Ungerechtigkeiten anzugreifen und hohle Sprechblasen
politischer Phrasendrescher zum Platzen zu bringen – vor allem aber auch, sich
einer von oben erzwungenen, sozialen Wende entgegenzustellen auf der Seite
derer, die dabei über, bzw. unter den Tisch gezogen werden sollen.
Dies soll jedoch kein Aufruf zu einer neuen
Agitprop-Lyrik sein und schon gar kein Plädoyer für eine Art Triviallyrik, von
der es ohnehin schon genug gibt. Eine Lyrik aber (und ein Verlagswesen!) die nur
die eigene Befindlichkeit bespiegelt und sich, gerade heute, nicht (auch)
einmischt ins gesellschaftliche und politische Geschehen, die unsere soziale
Wirklichkeit nicht wahrnimmt und thematisiert (und dies in verständlicher
Form), braucht sich nicht zu wundern, wenn sie nur wenig Beachtung findet.
Dabei ist doch gerade die Lyrik – eher als
andere literarische Gattungen – durch ihre knappe Anschaulichkeit und ihr zeit-
und platzsparendes Wesen dazu geeignet, kurzfristig und pointiert auf aktuelle
Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren.
Warum aber legt die angeblich so moderne Lyrik
von heute anscheinend nicht einmal mehr Wert darauf, wenigstens von denen
verstanden zu werden, die sich überhaupt noch die Mühe machen, Gedichte zu
lesen? Ich weiß es nicht, aber ich denke, es ist an der Zeit, Fenster und
Türen zu öffnen und frische Luft hereinzulassen, ehe die Lyrik an sich selbst
erstickt.
Hier
gibt's den Essay als PDF
* Der Aufsatz erschien 1996 in der
Zeitschrift "Impressum" (Vierteljahreszeitschrift für Autoren und Verleger)
und löste eine kurze, aber heftige Diskussion unter den Lesern aus.
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