Worte gegen den Wind ... Die Seite mit kritischer Lyrik und Satire

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Warum "Worte gegen den Wind"

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Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 1)

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 2)

Wie Drögelmanns den Weltuntergang überlebten (Teil 3)

Wiedervereinigung nachgeholt

Windstiller Morgen am Ufer der Weichsel

Wortergreifung

Zorniges Poem

Zwei 11. September

Zwei kurze


Warum führt die Lyrik so ein Schattendasein? *

(Versuch einer Antwort und Plädoyer für eine lebendige und engagierte Lyrik)

Ich bin kein Literaturwissenschaftler oder Poetologe, aber als Leser und Schreiber von Gedichten frage ich mich doch, warum gerade die Gattung der Lyrik in unserer Gegenwartsliteratur so ein Schattendasein führt – weitgehend unbeachtet von den Medien und der großen Masse der Kunst- und Literaturkonsumenten. Es werden zwar nach wie vor Unmengen von Gedichten (oder was sich als solches ausgibt) geschrieben und auch veröffentlicht – lesen will das aber, außer den Produzenten selbst, anscheinend kaum jemand.

Angesichts der Dauerberieselung durch die modernen Massenmedien mit ihren vorgekauten Gedanken und ihrer geistigen Schon- und Tiefkühlkost, mag es sein, dass das Publikum nicht mehr daran gewöhnt und überfordert ist, sich länger als nur einen Augenblick (im wahrsten Sinne des Wortes) auf etwas einzulassen, vielleicht genauer hinzuschauen, nachzulesen und selbst nachzudenken über das, was ein Anderer gedacht, erlebt und als Gedicht aufgezeichnet hat.

Sicher ist das mit ein Grund für das Desinteresse an der Lyrik. Vielleicht sind das Kabelfernsehen und der Computer-Virus schuld daran oder ganz einfach die Entdeckung des elektrischen Stroms und die Tatsache, dass abends keiner mehr bei Kerzenlicht liest? – Betrachtungen darüber würden vielleicht erklären, ändern würde sich dadurch nichts. Ich glaube aber, es liegt in erster Linie an den Lyrikern und Lyrikerinnen selbst (und wenn es nicht so wäre, dann hätte dieser Essay auch wenig Sinn und taugte allenfalls als Grabrede oder vorgezogener Nachruf auf die Lyrik).

Die Sprache der (publizierten) Lyrik ist immer unverständlicher geworden. Was sie vielleicht sagen will, versteckt sich hinter Bildern und Metaphern, die oft keine Resonanz mehr finden in der Phantasie ihrer Leser und Zuhörer. Ja, ich glaube, viele Lyriker wissen manchmal selbst nicht, was sie da eigentlich in ihren kryptischen Gedankengängen und Wortgebilden verborgen haben und schon gar nicht, warum sie das, was sie eventuell ausdrücken wollten, so verschlüsselt haben, dass es kein Nichteingeweihter mehr erkennen kann oder gar in der Lage ist, eigene Gefühle und Gedanken zu entdecken in einem Gedicht.

Das Publikum des Lyrikers erscheint so quasi als schwarzes Loch: Es schluckt zwar alles, was es geboten bekommt, bleibt dabei aber stumm und verschlossen im Dunkeln und zieht sich immer mehr in sich selbst zurück, bis schließlich nur noch ein kleiner, esoterischer Kreis übrigbleibt, von dem keinerlei Leuchtkraft mehr ausgeht.
    Die Lyrik aber, und damit auch jedes einzelne Gedicht, sollte ein Schlüssel sein zum Bewusstsein und zum Unbewussten, nicht nur des Verfassers, sondern auch des Empfängers. Was oder wen denn sonst sollte ein Gedicht erreichen, wenn es nicht nur leeres Wortgeklingel und seelische Selbstbefriedigung sein will? – Ein Schlüssel aber, der nicht passt, wird sich vergeblich drehen und winden – die Tür zum Nächsten wird verschlossen bleiben.
    Ein Gedicht sollte eindringen, sollte, was verschüttet war, nach oben kehren, das Unerhörte zum Schwingen, das Verschwiegene zur Sprache bringen. Es sollte zumindest irgendeine Erregung verursachen.

Was gibt es Öderes, als Leute bei Lesungen mit Lyrik zu langweilen? – Menschen, die scheinbar andächtig lauschen, in Wirklichkeit aber nur zum Gähnen zu höflich und zum Einschlafen nicht müde genug sind. Und gibt es da etwas Schöneres, als eine solche Versammlung mit ein paar einfachen und unerwarteten Versen aus ihrer Lethargie zu reißen?

Die Lyrik aber zieht sich zurück in ihren kunstvoll konstruierten Elfenbeinturm; der Dichter hält seinen Dornröschenschlaf und kümmert sich nicht um das, was draußen vor sich geht, wundert sich nur und beklagt sich ab und zu, warum denn niemand kommt und ihn wach küsst und wieder ins allgemeine Bewusstsein ruft.

Ich weiß nicht, wann genau und warum die Dichter in diesen Dornröschenschlaf fielen; vielleicht erklärt sich ja ihr Hang zum Zurückgezogenen und Verschlüsselten – zumindest hierzulande – aus dem nachwirkenden Klima von Einschüchterung und Angst, welches die wechselnden deutschen Diktaturen erzeugt haben (oder auch: ... erzeugt hat).

Unbequeme Wahrheiten nicht wahrhaben wollen, unerwünschte Gedanken lieber für sich behalten oder sie (wie im subtileren System der früheren DDR) zumindest so zu verkleiden, dass einem durch die Vieldeutigkeit des Geschriebenen keine eindeutigen Nachteile entstehen können – ein solches Verhalten erscheint verständlich, wo es notwendig war zum Überleben oder um wenigstens einigermaßen angenehm und unbehelligt existieren zu können.

Was mich aber wundert, ist die Tatsache, dass solche Verhaltensweisen, wie sie einer mehr oder weniger repressiven Gesellschaft angemessen sein mögen, allem Anschein nach in unsere heutige, demokratische Gesellschaft fast nahtlos übernommen wurden – davon ausgenommen vielleicht die 68er-Bewegung und die gesungenen Gedichte ("Lyrik" im ursprünglichen Sinn) verschiedener Liedermacher sowie einige, meist wenig publizierte, zeitgenössische Autoren.

Gibt es plausible Gründe dafür? Sollte unsere Gesellschaft etwa doch nicht so demokratisch und tolerant sein, wie sie es vorgibt? Wovor sollten wir uns fürchten? – Ist es die Diktatur des Wachstums um jeden Preis mit ihrem alltäglichen Konsumterror und Rentabilitätsdenken, die die harmlose und scheinbar überflüssige Kunst des Dichtens zum Schweigen und Stillhalten zwingt? Sind Gedichte heute so unzeitgemäß und nutzlos wie eine schwarze Schallplatte für jemand, der einen CD-Player besitzt? – Ich lasse diese Fragen unbeantwortet stehen, als Anregung zu eigenem Nachdenken – eine Absicht, die ja auch ein Gedicht verfolgen kann.

Unsere "klassischen" Dichter haben oft auf Motive aus der Antike und andere historische Stoffe zurückgegriffen, um ihre Ideen und Ideale auszudrücken, unbequeme Gedanken loszuwerden und gesellschaftliche Verhältnisse durch Vergleich bewusst zu machen. Heute ist das vielleicht schwer zu erkennen und nachzuvollziehen, aber ich denke, zu ihrer Zeit wurden sie verstanden – sicher nicht in allen Bevölkerungsschichten, wohl aber von denen, die ihre Werke lesen und hören konnten.

Um bei den Klassikern zu bleiben: Warum glauben die meisten modernen Lyriker, auf die stärksten Ausdrucksmittel der dichterischen Sprache wie Reim, Rhythmus, Sprachmelodie und Versmaß unbedingt verzichten zu müssen? – Um nicht dilettantisch, antiquiert oder gar reaktionär zu wirken? Dilettantisch ist aber nur, wer seine Kunst nicht beherrscht und altmodisch nur, wer es nicht versteht, traditionelle Formen mit aktuellen Inhalten und zeitgemäßer Sprache zu füllen. Es kommt aber weniger auf die äußere Form an oder darauf, so oder so nicht wirken zu wollen – vielmehr kommt es darauf an, überhaupt zu wirken.

Nach meiner Überzeugung gehört es zur sozialen Aufgabe und Verantwortung des Dichters, Kritik zu üben, Missstände deutlich zu machen, Ungerechtigkeiten anzugreifen und hohle Sprechblasen politischer Phrasendrescher zum Platzen zu bringen – vor allem aber auch, sich einer von oben erzwungenen, sozialen Wende entgegenzustellen auf der Seite derer, die dabei über, bzw. unter den Tisch gezogen werden sollen.

Dies soll jedoch kein Aufruf zu einer neuen Agitprop-Lyrik sein und schon gar kein Plädoyer für eine Art Triviallyrik, von der es ohnehin schon genug gibt. Eine Lyrik aber (und ein Verlagswesen!) die nur die eigene Befindlichkeit bespiegelt und sich, gerade heute, nicht (auch) einmischt ins gesellschaftliche und politische Geschehen, die unsere soziale Wirklichkeit nicht wahrnimmt und thematisiert (und dies in verständlicher Form), braucht sich nicht zu wundern, wenn sie nur wenig Beachtung findet.

Dabei ist doch gerade die Lyrik – eher als andere literarische Gattungen – durch ihre knappe Anschaulichkeit und ihr zeit- und platzsparendes Wesen dazu geeignet, kurzfristig und pointiert auf aktuelle Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren.

Warum aber legt die angeblich so moderne Lyrik von heute anscheinend nicht einmal mehr Wert darauf, wenigstens von denen verstanden zu werden, die sich überhaupt noch die Mühe machen, Gedichte zu lesen? Ich weiß es nicht, aber ich denke, es ist an der Zeit, Fenster und Türen zu öffnen und frische Luft hereinzulassen, ehe die Lyrik an sich selbst erstickt.

Hier gibt's den Essay als PDF


* Der Aufsatz erschien 1996 in der Zeitschrift "Impressum" (Vierteljahreszeitschrift für Autoren und Verleger) und löste eine kurze, aber heftige Diskussion unter den Lesern aus. 

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