Der wahre Glaube ist es wert, verteidigt zu werden
Im Herbst 1996 nahm ich an einer Lyrikertagung
im Schwarzwald teil. (Beim dazugehörigen Gedichtwettbewerb hatte ich zuvor den
3. Platz errungen.) Obwohl ich die zwei Übernachtungen dort selbst bezahlen
musste, wollte ich es mir nicht entgehen lassen, den Preis persönlich
entgegenzunehmen.
Zum Abschluss der Tagung fand eine Lesung der
Preisträger statt. Dabei trug ich unter anderem ein Gedicht vor, das den Sinn
der zahlreichen Reisen des damaligen Papstes in die Länder der Dritten Welt in
Frage stellte. Es bekam viel Beifall.
Am Ende der Lesung drängte sich ein älterer Herr durch die Menschenmenge vor
dem Podium. Mit puterrotem Gesicht und hasserfülltem Blick steuerte er
geradewegs auf mich zu.
Der Herr war mir bereits bekannt: Es war der pensionierte Direktor der
Niederlassung einer Schweizer Großbank, der auch Gedichte schrieb, die er in
Büchern veröffentlichte, deren Herausgabe er selbst bezahlte.
Wie ich es wagen könne, den Heiligen Vater in den Dreck zu ziehen, geiferte er
mich unvermittelt an. Er fühle sich persönlich angegriffen dadurch.
Ich war perplex. "Tut mir leid, wenn ich Ihre religiösen Gefühle verletzt
habe", sagte ich. Das sei nicht meine Absicht gewesen. Aber Kritik müsse
doch erlaubt sein, auch am Papst. "Und Sie sind ja schließlich nicht der
Papst und der Papst ist nicht der liebe Gott."
Das war Öl ins Feuer. Der Schweizer hob seinen
rechten Arm.
Gleich geht er auf mich los, dachte ich, versuchte beschwichtigend zu lächeln
und überlegte gleichzeitig, was ich tun sollte, wenn er mich wirklich schlagen
würde. Schließlich war er mindestens 20 Jahre älter als ich. Er wagte es aber
nicht. Und ein paar der Leute, die uns umringten, wären auch bestimmt
dazwischengegangen.
In der Jury habe er noch für mich gestimmt, sagte der Bankier mit erbitterter
Miene, aber wenn er das geahnt hätte … "Ich entziehe Ihnen hiermit mein
Votum!", verkündete er. "Und ich erkenne Ihnen den Preis ab, Sie
haben ihn nicht verdient."
Was sollte ich tun? Den Preis zurückgeben
konnte ich schlecht, ich hatte ihn ja noch gar nicht erhalten. (Er bestand in
der kostenlosen Veröffentlichung dreier Gedichte in dem Verlag, der den Preis
ausgeschrieben und die Tagung veranstaltet hatte.)
"Dazu ist es jetzt wohl zu spät", sagte ich also. Das sah er dann
wohl ein, denn er drehte sich wortlos um und ging.
500 Jahre früher aber und er hätte mich
wahrscheinlich - korrekterweise erst nach Folter und peinlicher Befragung - auf
einen eidgenössischen Scheiterhaufen gezerrt. Nein, zerren lassen. Aber er war
ja nur ein kleiner Bankdirektor aus der Schweiz des 20. Jahrhunderts und nicht
der Großinquisitor. Gott sei Dank und seinem Stellvertreter!
Aus der ersten Reihe der Umstehenden trat ein
anderer, noch älterer Herr auf mich zu und …
… klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.
"Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen", sagte er. "Mir hat Ihr
Gedicht gefallen. Ich mag ihn auch nicht, den Papst."
Noch einer also, der mich missverstanden hatte, allerdings auf sympathischere
Art als der dichtende Bankdirektor.
Ein Bankdirektor, ausgerechnet! Und aus der Schweiz. Dem Land, das zwar mit der
Schweizergarde sozusagen die Security des Vatikans stellt, das aber auch gerne
und mit Gewinn das zusammengeraffte Vermögen von Mafiosi, Diktatoren und
Steuerhinterziehern aus der ganzen Welt verwaltet.
Im Nachhinein denke ich, die Gefühle dieses Moralisten waren es doch wert ein
bisschen verletzt zu werden.
Der Moderator der Tagung besänftigte schließlich die aufgewühlte Stimmung im
Saal und ermahnte alle Anwesenden: Man dürfe ruhig unterschiedlicher Meinung
sein, solle dabei aber doch bitte anständig bleiben.
Wen er damit meinte, sagte er allerdings nicht.