Siegfried Schüller
Chaos im Versandhaus (Teil 1)
Erst
beim dritten Durchziehen piepste die elektronische Stechuhr und zeigte damit
an, dass sie seinen Arbeitsbeginn registriert hatte. Georg steckte die
Magnetstreifen-Karte zurück in seine Jackentasche. Wieder ein Tag im Arsch,
noch ehe er richtig angefangen hatte.
Die
Digitalanzeige der Stechuhr zeigte 14:02 Uhr: Zwei Minuten über der Zeit. Zur
Strafe zogen sie einem dafür gleich eine Viertelstunde vom Lohn ab. Georg
zuckte mit den Achseln. Schlimmer war der Gedanke an die achteinhalb Stunden,
die ihm an diesem Tag noch bevorstanden.
Seit
einer Woche machte er diesen Job, den ihm das Arbeitsamt beschert hatte: Drei
Monate Saisonaushilfe beim Großversandhaus Händle.
Das
Versandgeschäft boomte und in den Wochen vor Weihnachten war Hochsaison, da
reichte das Stammpersonal von Händle nicht aus, um die Arbeit zu bewältigen.
Man hatte sich also Verstärkung vom Arbeitsmarkt geholt.
Es
war eine bunte Mischung, die hier zusammenkam: Griechen, Inder, Russen,
Alkoholiker, arbeitslose Akademiker und andere Außenseiter, die nichts
Gescheites gelernt hatten wie Georg - fast ausnahmslos Männer, während die
andere Hälfte der Belegschaft, das Stammpersonal, zum größten Teil aus
Frauen bestand, die zum Familieneinkommen beitragen mussten, um die Raten
fürs Eigenheim oder das neue Auto bezahlen zu können.
Auf
dem langen Gang zur Halle kamen Georg ein paar müde Gesichter entgegen: Die
Nachzügler aus der Frühschicht liefen ohne zu grüßen an ihm vorbei
Richtung Ausgang.
Von
hinten holte ihn jemand ein. "Grüß dich, Georg!"
"Ach,
Roland, guten Morgen! Na, auch zu spät?"
Roland
grinste: "Na, weißt doch, meine Freundin hat heut frei." Georg
grinste zurück.
"Alles
klar Mann, ist ja Montag heute, der freie Tag der Bäcker, Friseure und
Fleischfachverkäuferinnen."
Sie
lachten. Roland war nämlich gelernter Bäcker und seine Freundin Verkäuferin
beim Schlachthof.
Gemeinsam
betraten sie die riesige, fensterlose Halle der Paketumladestation. Das
Rattern der Förderbänder schlug ihnen entgegen. Die Maschinerie lief kurz
nach Schichtwechsel bereits wieder auf vollen Touren und würde auch sie
gleich wieder im Griff haben.
Draußen
hatte die Sonne geschienen - hier drinnen herrschte den ganzen Tag über hell
erleuchtete Nacht.
Es
waren Roland und Georg, die bereits an ihren ersten beiden Arbeitstagen für
Aufsehen gesorgt hatten:
Jeden
Abend um 18 Uhr gab es eine halbe Stunde Vesperpause - die einzige Abwechslung
während ihres langen Arbeitstages.
Die
Kantine lag, an die Halle angrenzend, im ersten Stock und durfte nur während
dieser halben Stunde betreten werden. Es gab dort zwar eine gut ausgestattete
Küche, zu Essen gab es aber nichts. Jeder musste sich seine Vesperbrote von
zuhause mitbringen. Lediglich am Getränke- und am Zigarettenautomaten konnte
man etwas kaufen.
Der
Aufenthaltsraum der Kantine war durch ein Absperrgitter und entsprechende
Hinweisschilder in einen Raucher- und einen Nichtraucherbereich aufgeteilt. Im
Raucherbereich stand nur ein einziger, langer Tisch, der aber offensichtlich
dem Führungspersonal der Spätschicht und ein paar Spezis vom Stammpersonal
vorbehalten war. Der große Rest der Belegschaft verteilte sich auf die
zahlreichen Tische im Nichtraucherbereich.
Gleich
am ersten Abend hatte es eine der Aushilfen - Roland - gewagt, sich auf einen
freien Stuhl am Rauchertisch zu setzen. In barschem Ton wurde er sofort wieder
vertrieben und auf die Plätze für das gewöhnliche Personal im
Nichtraucherbereich verwiesen. "Der Stuhl hier ist schon besetzt",
hieß es, obwohl bis dahin niemand darauf gesessen hatte und auch bis zum Ende
der Pause keiner kam um darauf Platz zu nehmen.
In
der Halle selbst herrschte strenges Rauchverbot. Wer nach dem Essen oder
zwischendurch mal eine qualmen wollte, der musste sich dazu aufs Klo
verdrücken, wo das Rauchen zwar auch nicht erlaubt war, aber geduldet wurde.
Gegen Ende der Vesperpause herrschte dort jedes Mal dichtes Gedränge und eine
atemberaubende Atmosphäre aus Zigarettenrauch und Toilettengerüchen.
Es
war Georg, der es am zweiten Abend wagte, sich an den Rauchertisch zu setzen,
nachdem er seine belegten Brote verzehrt hatte.
...
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