Siegfried Schüller
Chaos im Versandhaus (Teil 2)
Alle
Stühle dort waren besetzt, bis auf einen, der aber natürlich auch wieder
"reserviert" war. Georg schnappte sich also einfach seinen eigenen
Stuhl und nahm ihn mit hinüber. Am Rauchertisch selbst war noch genug Platz.
Auf
einen Schlag verstummten die Gespräche dort, und Georg erntete teils
verblüffte, teils bitterböse Blicke von den Leuten, die da saßen.
"Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass der Tisch hier für das
Führungspersonal reserviert ist?", fragte ihn Herr Röck, der
Hallenleiter.
Georg drehte erst seine Zigarette fertig und zündete sie an, ehe er
antwortete: "Ja, schon, aber was soll ich machen? Da drüben ist das
Rauchen ja verboten, also muss ich eben dahin gehen, wo es erlaubt ist!"
Was sollte Röck dagegen sagen? Aufs Klo schicken konnte er Georg schlecht,
denn offiziell war ja auch dort das Rauchen untersagt. Röck schwieg also und
Georg blieb sitzen. Bis zum Ende der Pause wurde allerdings an diesem Tisch
kein Wort mehr gewechselt.
Die Kollegen an den Nichtrauchertischen hatten die ganze Szene natürlich mit
Spannung verfolgt und waren eine Zeit lang ebenfalls verstummt. Als nichts
weiter geschah, nahmen sie ihre Gespräche wieder auf. Zehn Minuten vor Ende
der Pause verließen die meisten von ihnen die Kantine. Das Führungspersonal
blieb natürlich sitzen, sie mussten ja nicht zum Rauchen aufs Klo.
Georg fühlte sich nicht mehr wohl und stand ebenfalls auf. Röck warf ihm
einen kurzen Blick zu. "Das wird nicht vergessen, du wirst schon
sehen", sagten seine Augen.
"Was für ein beschissenes Spiel", dachte Georg beim Hinausgehen.
Es
war am darauf folgenden Montag, als Georg gemeinsam mit Roland die Halle
betrat. Sie beeilten sich an ihre Arbeitsplätze zu kommen, ehe der
Hallenleiter ihr Zuspätkommen bemerkte. Die Kollegen an denen Georg
vorbeikam, grüßte er nur kurz mit einem Kopfnicken, man verstand hier
drinnen sowieso kaum sein eigenes Wort.
Wie blaue Ameisen wieselten Georgs Kolleginnen vom Postleitzahlenbereich 8
bereits herum und stapelten eifrig ein Paket nach dem anderen auf die
Versandpaletten mit ihren aufgespannten, gelben Plastikumhüllungen.
Die Sortiererinnen hier gehörten alle zum Stammpersonal. Sie trugen hellblaue
Arbeitskittel und eine weiße Hand auf der Brust - das Firmenzeichen von
Händle.
"Na,
Georg, wieder mal verschlafen? - Na ja, ist ja auch erst Viertel nach
Zwei!", sagte Rita. Alle anderen lachten oder kicherten. Georg sagte
nichts, schnappte sich das nächste Paket, ein 82er, das gerade von der
Rutsche kam und stellte es in eine passende Lücke auf die Palette für alle
Postleitzahlen die mit 82 anfingen.
Wenn eine Palette etwa mannshoch vollgestapelt war, wurde die gelbe
Plastikplane mit Riemen zusammengezurrt, sodass die Pakete wettergeschützt
verpackt waren.
Einer der beiden Hubwagenfahrer, die ständig unterwegs waren, holte das gelbe
Riesenpaket dann ab, stellte dafür eine leere Palette hin und zog die volle
auf ein Transportgleis, das die Paletten automatisch nach draußen
beförderte. Dort wurden sie später mit einem Gabelstapler in die
bereitstehenden Eisenbahnwaggons geladen.
Der Verladebahnhof des Versandhauses lag im industriellen Niemandsland
zwischen den beiden Nachbarstädten. Es gab keinen, der hier in einen Zug
stieg und niemand, der auf dem langen Bahnsteig auf irgendjemand wartete: nur
eine Reihe von Güterwaggons und Tausende von blauen Paketen, die von hier aus
bis ins letzte deutsche Dorf verreisten.
Vom eigentlichen Versandbereich, wo die künftigen Weihnachtsgeschenke
zusammengestellt und verpackt wurden, lief ein breites Förderband zirka einen
Kilometer entlang der Stadtautobahn bis hierher. Es war auf der gesamten
Länge mit weißem, gewelltem Kunststoff verkleidet. Von weitem sah das aus
wie ein langgestreckter Dickdarm, in dem die Päckchen zu ihrem Ziel
transportiert wurden.
Wenn man das gesamte Versandhaus mit einem Organismus verglich, so befanden
sich Georg und seine Kollegen quasi im Enddarm, von dem aus die Waren -
ordentlich verpackt und sortiert - sozusagen in die Welt hinausgeschissen
wurden.
In
der Halle spuckte das Förderband ohne Unterbrechung die blauen Päckchen und
Pakete auf Georgs Arbeitstisch. Nach kurzer Einarbeitung beherrschte er die
Kunst des lückenlosen Päckchenstapelns inzwischen fast perfekt und seine
Paletten füllten sich bald schneller als die der langgedienten Kolleginnen.
Rita, eine nette, ältere Frau, die schon seit Jahren bei Händle arbeitete,
hatte ihn gefragt, warum denn so ein fleißiger Mann keine richtige Arbeit
finden könne. Das wisse er auch nicht, hatte Georg geantwortet und sein
Arbeitstempo etwas gedrosselt, um unangenehmen Fragen künftig zu entgehen.
"Herr Müller bitte zur Leitzentrale, Herr Müller bitte zur
Leitzentrale!" plärrte der Hallenlautsprecher. Rita stupste Georg in die
Seite: "Hey, du bist gemeint! Geh lieber gleich, bevor's Ärger
gibt."
...
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