Siegfried Schüller
Chaos im Versandhaus (Teil 4)
Wenn
Ullrich von seinen "Geschäften" zurückkehrte und schlechte Laune
hatte, dann kam es vor, dass er seinen Adjutanten als "faule Sau"
beschimpfte und ihn zur Strafe mit ausladen ließ. Ullrich selbst legte nie
Hand an ein Paket.
Gleich
am ersten Tag auf der Rampe schnitt sich Georg am scharfkantigen Karton eines
der schwereren Pakete den rechten Daumenballen auf. Da seine Hände vor Kälte
fast gefühllos waren, bemerkte er es erst, als er das Blut sah.
Von
Ullrich bekam er daraufhin ein Pflaster, ein Paar Arbeitshandschuhe und einen
Anschiss wegen der Blutflecke auf den Paketen. – Flecken auf einem Paket:
Das könnte zu Kundenbeschwerden führen. – Und nur wenn es draußen stark
regnete oder schneite und der Wind die Flocken und Tropfen hereinblies, wurde
das Rolltor an den Seiten heruntergelassen – damit die Pakete nicht nass
wurden.
Beim
Schichtwechsel um 22:30 Uhr gab es jedes Mal einen Stau vor der Stechuhr.
Jeder wollte möglichst schnell hinaus und von draußen her drängelten die
Leute von der Nachtschicht, die zu spät dran waren und möglichst schnell
hinein wollten. Ab und zu versperrten auch noch die uniformierten Männer vom
Werkschutz den Weg. Stichprobenartig durchsuchten sie die Taschen der
Arbeiter. Einmal haben sie sogar einen erwischt. Er hatte ein paar
Christbaumkugeln mitgehen lassen, angeblich aus einem aufgeplatzten Päckchen.
Am nächsten Tag erschien er nicht mehr zur Arbeit, man hatte ihm fristlos gekündigt.
Nach
der Arbeit war Georg meistens ziemlich geschafft – eigentlich zu müde um
noch etwas zu unternehmen, aber trotzdem viel zu aufgekratzt um gleich
schlafen zu können. Deshalb machte er sich oft nicht sofort auf den Heimweg,
sondern fuhr mit der U-Bahn in die Stadt um in seiner Stammkneipe noch ein,
zwei Bierchen in Gesellschaft zu trinken.
An
den Abenden, an denen er gleich nach Hause fuhr und ins Bett ging, hatte er am
nächsten Tag immer das Gefühl, nur noch für Händle zu leben – es sei
denn, seine Freundin wartete in seiner Wohnung auf ihn. Das kam aber nicht so
häufig vor, da sie Krankenschwester war und schon früh um sechs im
Krankenhaus auf der Matte stehen musste – oft sogar am Wochenende.
So
oder so wurde es für Georg meistens ziemlich spät und er schlief am nächsten
Tag bis kurz vor Mittag. Sein Frühstück war für ihn dann gleichzeitig das
Mittagessen und danach musste er sich schon bald wieder auf den Weg zur Arbeit
machen. Auf die Art verging seine freie Zeit irgendwie nutzlos und die Tage
zogen sich einer wie der andere dahin.
Aber
je näher Weihnachten heranrückte, umso stärker schwoll der Strom der blauen
Pakete an. Hatten Georg und seine Kollegen vorher ab und zu noch Zeit gehabt
zwischendurch mal eine zu rauchen, ehe der nächste Container angeliefert
wurde, so stand jetzt, wenn einer geleert war, immer schon ein anderer bereit.
Ullrich
trieb seine Leute zu Höchstleistungen an. Je schneller sie aber ausluden und
die Pakete auf die Förderbänder knallten, die von den einzelnen Containern
wegliefen, desto eher passierte es, dass die Pakete auf dem breiteren Band,
das nach oben in die Halle führte, nicht im richtigen Takt aufeinander
trafen. Manchmal verkeilten sie sich dann, blieben stecken und es gab einen
Paketstau.
Sobald
die Leute im Leitstand auf ihren Überwachungsbildschirmen einen solchen Stau
entdeckten, ertönte eine Hupe, das Band stoppte und die Stimme des
Hallenleiters dröhnte, dass sie gefälligst besser aufpassen sollten.
Bevor
sie aber weiter ausladen konnten, musste erst der Paketstau beseitigt werden.
Dazu kletterte dann entweder einer von ihnen das schräge Förderband hoch
oder jemand anders von der Halle aus – je nachdem wo sich die Pakete
ineinander verkeilt hatten. Jedenfalls dauerte es immer eine ganze Weile, bis
alle Pakete mühsam auseinander sortiert waren.
In
einer dieser Zwangspausen kam Ullrich auf einmal mit vier Flaschen Bier aus
seinem Kabuff. Zur Überraschung aller gab er eine Runde Zigaretten aus und drückte
jedem eine Flasche in die Hand, obwohl offiziell auch Alkoholgenuss am
Arbeitsplatz verboten war.
Sie
rauchten und tranken ihr Bier und Ullrich unterhielt sich eine Weile ganz
freundlich und normal mit ihnen, wobei er über seine Kreuzschmerzen klagte.
"Aha", dachte Georg, "jetzt hat er ein schlechtes Gewissen,
weil er uns nie hilft beim Ausladen."
Ullrichs
unerklärlicher, fast euphorischer Zustand hielt etwa zehn Minuten an, bis das
Band wieder lief und er sich wieder in sein Kämmerchen zurückzog. Vielleicht
hatte er sich gelangweilt. Sein Adjutant war nämlich wegen Grippe krank
geschrieben und so hatte er niemand, mit dem er seine Zeit totschlagen konnte.
Sobald
Ullrich wieder außer Sicht war, drosselten sie ihr Arbeitstempo etwas und
nutzen die Gelegenheit sich zu unterhalten. Vassílis, ein älterer Grieche,
der Georg immer Georgios nannte, erzählte gerne von seiner Heimat und seiner
Familie; Peter, der aus der DDR geflüchtet war, gefiel es, mit Georg ein
wenig zu sächseln.
Am
Tag darauf war Ullrich wieder ganz der Alte. Diesmal war er sogar noch übler
drauf als gewöhnlich. Kalle war, wie gesagt, nicht da und so musste Ullrich
sich ab und zu höchstpersönlich draußen in die Kälte stellen um sie
anzutreiben. Der ungewohnte Stress und die übliche Menge Alkohol ergaben wohl
eine ungute Mischung, die ihm zu Kopf gestiegen war. Er fuchtelte mit den
Armen herum wie eine Furie, brüllte, beschimpfte sie und fluchte in einer
Tour.
Georg
wusste jetzt, wie man sich fühlt, wenn man kurz davor ist jemanden
umzubringen. Ihm taten die Schultern und das Kreuz weh, aber wie in Trance
buckelte er weiter, bis er seine Arme kaum noch spürte.
Vassílis
war schließlich der Erste, der bemerkte, dass Ullrich mal wieder zu einem
seiner "Geschäftsgänge" verschwunden war. Er klopfte Georg auf die
Schulter: "Hey, Georgios, mach langsam, er ist weg!"
Georg
hatte Mühe, sein Tempo wieder auf ein erträgliches Maß herunterzufahren.
Die Verschnaufpause dauerte aber nicht lange, dann kamen die Lkws und brachten
zwei volle Container auf einmal. Jetzt standen also gleich drei Container an
der Laderampe. Es war zum Verzweifeln. – Da aber hatte Georg eine Idee ...
...
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