Siegfried Schüller
Chaos im Versandhaus (Teil 6)
In der
Leitzentrale empfingen ihn fünf Leute: Hallenleiter Röck mit seiner Assistentin,
zwei krawattierte höhere Händle-Herren und eine Dame, die sich als
Vertreterin des Betriebsrats vorstellte. Vor den zwei Tischen, hinter denen
sie auf ihren Bürosesseln saßen, stand ein einfacher Holzstuhl. Auf dem durfte Georg Platz nehmen.
Zuerst
stellten sie ihm harmlose Fragen zu seiner Tätigkeit bei Händle im
Allgemeinen, dann wollten sie genau wissen, wie es zu den Vorfällen vom
Vortag gekommen war.
Georg
berichtete von den drei vollen Containern, die auf einen Schlag an der Rampe
gestanden waren. "Da haben wir halt einen ordentlichen Zahn zugelegt, damit
wir die schaffen", sagte er. "Wir waren ja auch nur zu dritt." – "Nein, was in der Halle los war, haben wir nicht mitbekommen, aber als
der Alarm losging, haben wir natürlich sofort aufgehört mit dem
Ausladen."
Röck
und seine Assistentin warfen sich verstohlen einen Blick zu, sagten aber
nichts.
Die Betriebsrätin
fasste schließlich das Ergebnis der Befragung mit einem Satz zusammen: Nach dem, was er, Georg, gesagt habe und nach den übereinstimmenden
Aussagen seiner beiden Kollegen sei eigentlich klar, dass alle drei nur ihre
Arbeit gemacht hätten. „Und das
sogar mit besonderem Eifer“, betonte sie mit einem Lächeln in
Richtung Georg.
Die
beiden Krawattenträger blätterten noch eine Weile in ihren Unterlagen und flüsterten
sich etwas zu. „Danke,
Herr Müller“, sagte dann der, der in der Mitte saß. „Sie sind
entlassen.“
Georg
schluckte.
„Das heißt, Sie können wieder zurück an Ihre Arbeit
gehen“, fügte der Händle-Mann hinzu, als er Georgs fragenden Blick bemerkte.
Draußen
auf der Stahltreppe
atmete Georg auf. Mit jedem Schritt
nach unten hatte er das Gefühl leichter zu werden.
Nachdem
die Untersuchung abgeschlossen war, durften Georg und seine beiden Kollegen
unbehelligt weiterarbeiten und sogar der Ton des Hallenleiters wurde
vorübergehend etwas
freundlicher.
Ullrich
war danach ziemlich kleinlaut. Er war zum Päckchenstapler degradiert worden und arbeitete
jetzt in der Halle Seite an Seite mit seiner Frau. Er schien darüber gar nicht
einmal so unglücklich zu sein. Ab und zu sah man ihn sogar lachen.
Vassílis
durfte wieder in Ruhe Päckchen stapeln und Peter stieg zum
"Springer" auf, das heißt, er musste immer dort aushelfen, wo
gerade Not am Mann war. Georg schließlich wurde sogar zum Hubwagenfahrer befördert.
Sein
sächsischer Kollege ging ihm seltsamerweise von da an aus dem Weg, redete
kaum noch mit ihm und setzte sich in der Kantine an einen anderen Tisch. "Vielleicht ist er neidisch und denkt, ich wäre nur darauf
aus gewesen einen besseren Posten zu ergattern", dachte Georg. Ihm lag aber nichts ferner als
das. Es war ihm schlicht egal, was er in diesem Laden für einen Job machte –
wenn er auch froh war, dass er jetzt wenigstens ein
bisschen Spaß bei der Arbeit hatte und keine ganz so öde und anstrengende Tätigkeit mehr.
– Georg
hoffte auf Weihnachten.
Zwei
ziemlich dunkelhäutige Inder waren die anderen, festangestellten
Hubwagenfahrer. Beide hießen mit
Nachnamen Singh, waren aber nicht miteinander verwandt. Sie gehörten der
indischen Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Der ältere nannte
sich Mandy und trug nach der Arbeit immer einen kunstvoll gewickelten Turban.
Der jüngere, Sandy, nahm es wohl nicht so genau mit den Bräuchen der Sikhs
und ging oben ohne. Trotzdem sahen sie aus wie Brüder und schienen
unzertrennlich.
Beide verstanden einigermaßen
gut deutsch,
freuten sich aber,
dass sie sich mit Georg auch auf Englisch unterhalten konnten. Sandy
zeigte ihm, dass man auf dem Hubwagen wie mit einem Tretroller fahren konnte.
Die Arbeit ging so erstens schneller und machte zweitens auch noch Spaß. Und so sauste Georg bald durch die Gänge zwischen den einzelnen
Postleitzahlenbereichen – immer auf der Suche nach vollgestapelten und
fest verschnürten Versandpaletten.
Aus
irgendeinem Grund waren Sandy und Mandy überzeugt, dass Georg einmal
Filmschauspieler werden würde. Davon ließen sie sich auch nicht abbringen,
als Georg derartige Absichten dementierte. Er musste versprechen, dass er ihnen
später – wenn es mit der Schauspielerei soweit wäre – zumindest eine kleine Nebenrolle verschaffen würde.
Bis
dahin teilten sich die beiden Inder auch den Job des Staplerfahrers, der draußen
auf dem Bahnsteig die versandfertigen Paletten in die Güterwaggons bugsieren
musste.
Auf dem großen Gabelstapler sitzen und damit herumfahren war zwar keine
körperlich besonders anstrengende
Arbeit, aber bei den frostigen Temperaturen im Freien war man – trotz warmer Kleidung
– schnell bis auf die Knochen durchgefroren.
Wenn
der eine die Kälte nicht mehr aushielt, kam er zurück in die Halle und der
andere löste ihn ab. Als Sandy einmal mit seinen dicken Fellhandschuhen, der
pelzumrandeten Kapuzenjacke und dampfend wie ein Walross hereinkam, musste
Georg lachen. „You look like a real Indian Eskimo“, sagte er.
Dass
er aussehen sollte wie ein echter indischer Eskimo fand Sandy in diesem Moment aber längst nicht so lustig wie Georg.
Sandy
wischte sich die kleinen Eiszapfen weg, die ihm von der Nase hingen und was er
dann sagte, gehört nicht zu dem, was man im Englischunterricht lernt.
Sonst
waren die beiden Singhs aber immer gut gelaunt und ständig zu irgendwelchen
kleinen Streichen aufgelegt – und das, obwohl sie zur Stammbelegschaft gehörten.
Georg
verstand sich jedenfalls gut mit den beiden, und so verbrachte er die Zeit bis
kurz vor Heiligabend in einer angenehmen Arbeitsatmosphäre.
Nur
in
den letzten Tagen seines Jobs bei Händle musste Georg dann doch noch einmal
hinaus auf die Laderampe, weil zwei neuen Männer dort krank geworden waren. Den
Job als Aufseher hatte inzwischen Kalle, Ullrichs ehemaliger Gehilfe,
übernommen. Meistens arbeitete er jetzt sogar mit.
Als in
der vorletzten Schicht vor Weihnachten eins der Pakete etwas unsanft auf dem
Förderband landete, da ertönte plötzlich das gedämpfte Kling-klang einer
Spieluhr. Durch den Aufprall war wohl ihr Mechanismus ausgelöst worden. Das
Paket spielte jedenfalls die Melodie von "Stille Nacht, heilige
Nacht".
Georg
und seine Kollegen blieben stehen, lauschten und schauten zu, wie das Paket
auf dem Förderband nach oben fuhr, bis es mitsamt der
stillen Nacht hinter dem schwarzen Lederlappen verschwand, der den Durchlass
zur Halle abdeckte.
Ihnen war auf einmal sehr weihnachtlich
zumute. Keiner sagte etwas, nur noch die Rollen des Fließbands waren zu hören
und für eine Weile schien die Welt ganz in Ordnung, wie sie war.
Dann
plärrte der Lautsprecher: "Hey, was ist los da draußen! Seid ihr alle
eingeschlafen?"
Ende
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