Siegfried Schüller
Chaos im Versandhaus (Teil 5)
"Hey,
wartet mal!", rief Georg seinen Kollegen zu, die sich gerade über die
neu angekommenen Container hermachen wollten. "Passt mal auf! Bis jetzt
haben wir immer ein bisschen langsamer gearbeitet, wenn Ullrich weg war. Was
haltet ihr davon, wenn wir's diesmal umgekehrt machen?"
Peter
und Vassílis machten große Augen und schienen nicht gerade begeistert von
Georgs Vorschlag. Dann aber begriffen sie, worauf er hinauswollte. –
"Ja, los, jetzt zeigen wir's ihm!", rief Peter und rieb sich in
Vorfreude die Hände.
Gemeinsam
öffneten sie die Ladeklappen der Container. Dann begannen sie alle drei
Container gleichzeitig auszuladen – aber wie die Verrückten! Die Pakete
flogen nur so auf die drei Förderbänder. Im perfekten Takt trafen sie dicht
an dicht auf dem breiteren Band zusammen und so dauerte es ziemlich lange, bis
sich die ersten oben am Durchlass zur Halle zurückstauten.
Das
Band lief aber weiter und weiter und schob immer neue Pakete nach, und auch
Georg und seine Kollegen ließen nicht nach in ihrem Eifer bis sich die ersten
Pakete verkeilten. Die nachfolgenden wurden darüber geschoben und gegen die
Decke gedrückt; andere fielen herunter und wurden zwischen Wand und Förderband
eingequetscht.
In
der Steuerzentrale war anscheinend niemand auf seinem Posten. Normalerweise hätten
sie das Band längst anhalten müssen.
Schließlich
ertönte doch noch die Alarmhupe und sogar die rote Warnleuchte an der Decke
begann zu blinken.
Der
Lautsprecher brummte schon, aber es dauerte eine ganze Weile, bis die Stimme
des Hallenleiters zu hören und zu verstehen war: "Seid ihr wahnsinnig
geworden da draußen?" – Und dann, fast flehentlich: "Hört auf, hört
sofort auf damit!"
Dann
endlich stoppte das Band.
Sie
hatten es geschafft. Georg und seine Kollegen lachten und schüttelten sich
die Hände. Dann beschlossen sie, in die Halle zu gehen um nachzusehen, was
passiert war.
Drinnen
herrschte das totale Chaos.
Kurz
vor der automatischen Vorsortierung, wo das Förderband von der Laderampe mit
dem zusammentraf, das vom Versandhaus her hereinführte, türmte sich ein
ganzer Berg blauer Pakete bis fast zur Hallendecke hinauf. Überall lagen Päckchen
und Pakete neben dem Fließband. Manche waren aufgeplatzt, so dass ihr Inhalt
herausquoll, andere waren nur zerquetscht worden. Zwischen den Paletten der
einzelnen Postleitzahlenbereiche standen die Sortiererinnen hilflos vor etwas
kleineren Pakethaufen. Die Verteilanlage hatte viele Pakete nicht richtig
zugeteilt; etliche waren auch von den nachdrängenden Paketen in die falschen
Rutschen geschoben worden; andere waren einfach vom Band heruntergefallen.
Irgendwann waren die Leute mit dem Aussortieren nicht mehr nachgekommen und
hatten die Pakete irgendwo aufgestapelt oder einfach liegen lassen.
Georg
und seine beiden Kollegen waren selbst überrascht. Nie hätten sie damit
gerechnet, dass ihre Arbeitswut derartige Auswirkungen haben würde.
Oben,
im Glaskasten der Steuerzentrale, sah man den Hallenleiter herumtoben. Dann
kam Ullrich dazu und es war bis unten zu hören, wie Röck ihn zur Schnecke
machte. Danach war er wohl selbst an der Reihe. Man sah, wie er mit dem
Telefonhörer in der Hand hilflos herumgestikulierte und offenbar vergeblich
versuchte den Anrufer zu beschwichtigen.
Wie
sie später erfuhren, hatten sich die Pakete bis weit in den Tunnel zurückgestaut,
der neben der Stadtautobahn verlief. Sein Gang war auf halber Länge
verstopft. Arbeiter und Techniker mussten vom Versandhaus her durch die weiße
Röhre kriechen. Es dauerte mehr als drei Stunden, ehe das Chaos halbwegs
beseitigt war und die Maschinerie langsam wieder auf Touren kam.
Georg
und seine Kollegen hatten einen gewaltigen Anschiss erwartet, der aber
seltsamerweise ausblieb – vorläufig jedenfalls, dachten sie. Nur ein paar
Mitarbeiter der Stammbelegschaft warfen ihnen vorwurfsvolle Blicke zu; andere
grinsten und man sah ihnen an, dass sie am liebsten Beifall geklatscht hätten;
die meisten aber waren wohl einfach froh über etwas Abwechslung und die
Unterbrechung des alltäglichen Trotts.
Als
Folge der Ereignisse wurde zunächst die Mannschaft an der Laderampe komplett
ausgewechselt. Georg & Co. wurden zurück in die Halle versetzt. Am nächsten
Tag gab es eine Untersuchung der Vorfälle durch die Werksleitung. Auch Vassílis,
Georg und Peter wurden zu den Vorkommnissen befragt.
Alle
drei mussten unten an der Treppe zur Steuerzentrale warten. Keiner sagte ein
Wort. Nacheinander wurden sie aufgerufen. Einzeln mussten sie vor der
Untersuchungskommission Rede und Antwort stehen und von unten konnte man nicht
sehen, was oben in dem Glaskasten vor sich ging.
Zuerst
war Peter dran. – Als er nach einer ganzen Weile wieder herauskam, ging er
mit gesenktem Kopf und zusammengezogenen Augenbrauen an ihnen vorbei und
kehrte wortlos zurück an seinen Arbeitsplatz.
Als
Vassílis nach seinem Verhör die Treppe herunterstieg, hatte Georg schon ein
mulmiges Gefühl. Ebenfalls ohne etwas zu sagen lief sein älterer Kollege an
ihm vorbei, schaute ihm dabei aber für einen Moment in die Augen. – Hatte
Vassílis nicht gerade ein wenig gelächelt und ihm zugeblinzelt? – Georg
war sich nicht sicher.
Dann war er an der Reihe.
...
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