Siegfried Schüller
Chaos im Versandhaus (Teil 3)
Die
Leitzentrale sah von unten aus wie das Stellwerk eines Rangierbahnhofs: ein
großer Glaskasten, der wie ein riesiges, durchsichtiges Schwalbennest unter
der Hallendecke hing.
Georg
stieg die Gittertreppe hinauf. Von da oben hatte man die ganze Halle im
Blickfeld. Er erwartete einen Rüffel für sein Zuspätkommen. Stattdessen
sagte der Hallenleiter nur: "Müller, ziehen Sie sich warm an, es ist
kalt draußen."
Georg
war verdutzt. "Was denn, gleich gefeuert nur wegen ein paar Minuten Verspätung?",
dachte er. Wie hypnotisiert starrte er auf die Monitore und blinkenden
Kontrolllämpchen der Steuerzentrale.
"Nun
machen Sie schon, die warten auf Sie!", drängte Röck und Georg kapierte
gar nichts mehr. "Melden Sie sich sofort bei Herrn Ullrich an der
Lkw-Rampe. Ab heute helfen Sie beim Containerausladen."
"Na
ja, wenigstens mal was anderes als bloß Pakete stapeln", dachte Georg.
Er war erleichtert und gleichzeitig ein wenig enttäuscht, dass er nun doch
nicht erlöst wurde von der Plackerei. –
Also weiter so bis Weihnachten!
Als
er nach unten ging, um seine Jacke zu holen, erntete er im Vorbeigehen
mitleidige Blicke seiner Kolleginnen. "Die glauben wahrscheinlich auch,
ich bin entlassen", dachte er.
Draußen
war’s wirklich kalt. An der offenen Laderampe wehte in jeder Beziehung ein
anderer Wind als drinnen in der beheizten Halle.
Zwei
Sattelschlepper waren Tag und Nacht unterwegs und brachten große Container
vom Versandhaus zum Verladebahnhof. Darin befanden sich die Pakete, die wegen
ihrer Größe oder ihres Gewichts nicht auf dem Förderband transportiert
werden konnten oder deren Inhalt sehr empfindlich war – Küchengrills, Kühlschränke,
Mikrowellen, Kaffeemaschinen, Fernseher etc. – vielleicht aber auch, weil
man befürchtete, sie könnten auf die eine oder andere Weise unterwegs
abhanden kommen.
Georg
bekam von Herrn Ullrich, dem Rampenchef, eine knappe Einweisung: "Containerklappe
auf, bewegliches Förderband ran, einschalten, Pakete ausladen, aufs Band
stellen und ab damit in die Halle." –
Georg stand etwas ratlos da.
"Und,
auf geht’s!", rief Ullrich und klatschte in die Hände. "Oder
brauchen Sie eine extra Einladung?" – Georg zerrte das erste Paket aus
dem Container.
"Weiter,
weiter, nicht einschlafen bei der Arbeit!", schrie Ullrich. "Zack-zack
muss das gehen." – "Mann, sind Sie wahnsinnig?", brüllte er.
"Knallen Sie die Pakete nicht so aufs Band! Oder wollen Sie das Zeug
bezahlen, wenn’s kaputt ist?" – "Na also, geht doch, weiter so,
aber dalli-dalli! Oder brauchen Sie erst einen Tritt in’n Arsch?"
Ullrich
war ein echtes Arschloch und, wie Georg von seinen neuen Kollegen erfuhr,
sogar ein gelerntes – mit solider Berufserfahrung als ehemaliger
Unteroffizier und Schleifer einer Ausbildungskompanie der Bundeswehr.
Den
Übergang vom Kasernenhofton zum zivilen Kapogebrüll hatte er offenbar mühelos
und ohne charakterliche Verluste vollzogen. Dass es hier keine jungen Rekruten
mehr waren, die man leicht einschüchtern und schikanieren konnte, schien ihn
nicht weiter zu stören.
Ullrich
hatte sogar eine Art Adjutanten, der ihm beim Herumkommandieren half. Kalle,
der Adjutant, war ein harmloser, junger Schnösel. Er hatte als Gefreiter in
der gleichen Kompanie gedient wie Ullrich, der ihm später, nach Ende ihrer
Dienstzeit, den Job im Versandhaus verschafft hatte.
Während
Georg und seine beiden Kollegen in einer Tour die Pakete vom Container aufs
Band wuchteten, saß Uffz. Ullrich die meiste Zeit in seinem Kontrollkabuff
neben der Laderampe, las in aller Ruhe die Bildzeitung, rauchte, trank Bier
oder spielte Karten mit seinem Gehilfen. Der musste selten ran ans Band.
Allenfalls wenn einmal mehr als zwei Container gleichzeitig dastanden,
schickte Ullrich ihn hinaus auf die Rampe.
Oft
blieb Ullrich eine Stunde oder länger verschwunden, während sein
Stellvertreter das Kommando führte. Ullrich war dann, wie er es nannte,
"geschäftlich unterwegs" oder hatte angeblich eine längere
Besprechung in der Leitzentrale. Mit dem Hallenleiter schien er befreundet zu
sein; jedenfalls duzte er ihn, was außer dessen junger Assistentin sonst
niemand tat.
Böse
Zungen behaupteten allerdings, dass Ullrich es während seiner Abwesenheit mit
seiner Frau im Brotzeitraum treiben würde. Gesehen hatte das aber noch
keiner, da ja der Aufenthalt dort während der Arbeitszeit untersagt war.
Ullrichs
Frau arbeitete als Sortiererin in der Halle. Sie sah ziemlich gut aus, was
nicht nur Georg fand. Als einzige der einfachen Angestellten durfte sie beim
Abendessen in der Kantine am Tisch des Führungspersonals sitzen. Sie schien
sehr schweigsam zu sein und wechselte allenfalls mit den Kolleginnen ihres
Postleitzahlenbereiches mehr als nur ein paar Worte.
Ullrich
war trotzdem eifersüchtig und passte auf, dass ihr kein anderer zu nahe kam,
vor allem keine der Aushilfen oder der fest angestellten Ausländer.
Sie
war, wie gesagt, sehr hübsch, hatte aber meistens einen traurigen Blick.
Wahrscheinlich war sie eine jener duldsamen Frauen, die in ihrem Mann noch
immer den Menschen vermuteten, den sie irgendwann einmal kennengelernt hatten
und die die Hoffnung nicht aufgaben, er würde es vielleicht wieder werden.
...
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